Staffellauf #76 von André Pitz • 06. November 2025
Hi! Drüben bei Instagram pfiffen es die Spatzen schon von den Dächern. Okay, gut, der Spatz war ich und gepfiffen habe ich eigentlich auch nicht, sondern 48 Storys rausgehauen – und zwar von der 68. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, kurz DOK Leipzig.
Wenn man schon einmal pro Jahr das älteste Dokumentarfilmfestival der Welt vor der Haustür hat, sollte man das auch ausnutzen – also jedenfalls als kino- und film(kunst)interessierter Mensch.
Neben mir haben das dieses Jahr nach Angaben des Festivals rund 53.000 Besucher*innen gemacht. Das sind zwar etwa 2.000 weniger als im Vorjahr, aber angesichts dessen, dass der Besucher*innenrekord vor der Pandemie bei „nur" 45.000 lag, ein gutes Zeichen für das Festival.
Denn das DOK steht unter Druck. Das Land Sachsen hat dem Festival wichtige Fördermittel gestrichen, ohne die keine barrierefreie Umsetzung des Programms möglich gewesen wäre. Wäre, weil sich die DOK-Leitung dennoch zu helfen wusste und auf die Solidarität der Dokumentarfilmfreund*innen setzte.
Durch ein erfolgreiches Crowdfunding konnten so immerhin fünf Filme im Wettbewerb zusätzlich mit erweiterten Untertiteln beziehungsweise Audiodeskriptionen ausgestattet werden.
Angesichts dessen, dass zuvor mit Förderung des Freistaats etwa 35 Filme barrierefrei zugänglich gemacht werden konnten, ist das leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein und Sinnbild für den enormen ökonomischen Druck, unter dem kulturelle Angebote derzeit stehen – nicht nur in Sachsen.
Insgesamt standen 252 Filme und Extended-Reality-Arbeiten aus 55 Ländern im Programm. Wie im vergangenen Jahr habe ich mich auf die beiden großen Wettbewerbe, also den internationalen und den deutschen, konzentriert und letztlich 15 der 16 Langdokumentarfilme sehen können.
Während sich im vergangenen Jahr viele Filme um konkrete Themen, auf die von außen geblickt wurde, drehten, blieben in diesem Jahr sehr viele Filmemacher:innen bei sich selbst. Viele gruben in ihrer eigenen Vergangenheit, spürten Familiengeschichten nach und versuchten zu ergründen, was das für die eigene und gesamtgesellschaftliche Gegenwart bedeutet.
Drei Highlights möchte ich Dir hier vorstellen:
„Melt" von Nikolaus Geyrhalter
Über etwas mehr als zwei Stunden entführt uns der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter hinaus in die Natur – in die höchsten Höhen der Alpen und auf das vermeintlich ewige Eis der Antarktis, aber eben auch vor die dröhnenden Boxen der Après-Ski-Party direkt am Hang, während die Schneekanonen ihr letztes Pulver für den Tag noch nicht ganz verschossen haben. „Melt" ist ein Film der überwältigenden Bilder, aber eigentlich noch viel mehr der Geräusche, die sich aus Schnee und Eis heraus ergeben – und die mit dem Schnee auch von unserer Welt verschwinden werden.
„Melt" startet zumindest in Österreich schon am 21. November 2025 in den Kinos. Für Deutschland ist noch kein Datum bekannt. Aber da unter anderem das ZDF koproduziert hat, scheint zumindest eine Auswertung in der Mediathek ziemlich sicher. (Zum Trailer)
„Peacemaker" von Ivan Ramljak
Wir bei Shelfd sind große Fans von Volker Heises „Gladbeck: Das Geiseldrama" (2022). Der aus Archivmaterial zusammengeschnittene Dokumentarfilm gehörte zu unseren absoluten Lieblingsstreams 2022. Denn er ließ die Bilder für sich sprechen und übte alleine aus seiner Form heraus bereits eine Arte von Gesellschafts- und Medienkritik.
Ivan Ramljak bedient sich ähnlicher Mittel und blickt mit „Peacemaker" auf den Mord an einem kroatischen Polizeichef, der 1991 inmitten sich zuspitzender Konflikte zwischen der serbischen Minderheit und zunehmend nationalistischer eingestellten Kroat*innen begangen wurde. Auch Ramljak reiht wie Heise ausschließlich Material aus den Medienarchiven aneinander und setzt damit ein Bild zusammen, was damals entweder keiner sehen konnte, noch wahrscheinlicher aber nicht sehen wollte.
Die DOK-Jury zeichnete „Peacemaker" dafür mit dem Hauptpreis im internationalen Wettbewerb aus. Mein Gefühl sagt: Das ist ein heißer Kandidat für die Arte-Mediathek!
„Nonna" von Vincent Graf
Vincent Graf studiert noch an der Kunsthochschule für Medien Köln und hat „nebenbei" seinen ersten Langdokumentarfilm abgeliefert, der sich auf dem Festival schnell als dann letztlich nicht mehr ganz so geheimer Geheimtipp herumsprach.
Graf hat mit „Nonna" ein Porträt seiner in Italien lebenden Großmutter geschaffen, das vor Herzenswärme, aber auch bittersüßer Melancholie nur so strotzt. Es ist das Porträt einer vielleicht etwas schrulligen, auf jeden Fall aber kämpferischen und stolzen Frau, die nun mit den Entscheidungen und Umständen ihres Lebens ins Gericht gehen muss. Und es ist eine Liebeserklärung an eine Frau, die eine derartige Erscheinung ist, dass eine Welt ohne sie kaum vorstellbar ist, aber leider irgendwann sein muss.
Im Kino kann man bei „Nonna" toll miteinander lachen, daher hoffe ich, dass sich hierzulande ein Verleih finden wird.